Katerina Gregos

Kuratorischer Essay

Obwohl die Liebe ein grundlegendes Gefühl ist, wird sie in der heutigen Zeit für gewöhnlich aus den Rängen höheren intellektuellen Strebens und ernsthaften Diskurses als „unwürdiges“ Thema verdrängt – als etwas, das als oberflächlich, kitschig oder nostalgisch erachtet wird. Themen rund um die Liebe sind heute meist eher im Bereich der kommerziellen Kultur angesiedelt, in Seifenopern oder Liebesromanzen als in der hohen Kunst. Im Bereich der zeitgenössischen Kunst herrscht ein merkwürdiges Vorurteil gegenüber diesem grundlegenden menschlichen Gefühl, dem nicht die Aufmerksamkeit zuteil wird, die es vielleicht verdient hätte. Und doch brauchen die meisten Menschen Liebe. Liebe kann Berge versetzen und Menschen in einer Weise radikal verändern, wie es keine andere Kraft vermag. Es ist daher eher rätselhaft, dass die Liebe in der heutigen Zeit scheinbar entweder zu einem flüchtigen, verkorksten und unglaubwürdigen Gefühl degradiert wird oder als süßliche, sentimentale und fehlerbehaftete Leidenschaft gilt, die im Vergleich zu dem edleren Streben nach Vernunft und Mäßigung ins Hintertreffen gerät. Nur wenige zeitgenössische Philosophen scheinen sich beispielsweise für das Thema zu interessieren (das außerdem in der Kunstwelt auffälligerweise abwesend ist). Alain Badiou ist eine der – Ausnahmen, sein Buch On Love verteidigt die Liebe sowohl als menschliche Fähigkeit als auch als ergiebiges philosophisches Forschungsgebiet, und das gilt auch für diese Ausstellung.[1]

Wie aber sind wir an diesen Punkt gekommen? Mit der Industriellen Revolution und dem Kapitalismus kam die Idee von Effizienz und Produktivität und die zunehmende Besessenheit von Arbeit auf, und die Liebe wurde im Leben der Menschen immer mehr in den Hintergrund gedrängt. Mit dem Aufkommen der Konsumgesellschaft, und dies gilt umso mehr im heutigen Zeitalter des Turbokapitalismus, wurde die Liebe immer mehr zur Ware, die mit sexueller Lust zusammengepackt und als Mythos verkauft wurde. Darüber hinaus hat die Auflösung traditioneller Bindungen innerhalb von Familie, Religion und Ehe zusammen mit den Veränderungen in der Arbeitswelt und der Wirtschaft, sowie das Aufkommen neuer Medien und elektronischer Technologien zu einer grundlegenden Verschiebung in unserer Psyche und unserer Wahrnehmung geführt – gepaart mit einer Tendenz, eher vorübergehende, flüchtige Beziehungen ohne allzu große Verbindlichkeit einzugehen.

Man könnte argumentieren, dass die Kommerzialisierung der Liebe im digitalen Zeitalter ihren Höhepunkt erreicht hat, unterstützt und vorangetrieben durch die sozialen Medien und die Hypersexualisierung von Körpern und Emotionen, die wie vermarktbare Waren gehandelt werden. Gleichzeitig hat aber auch die Allgegenwart und überwältigende Größe der Pornoindustrie im Internet unsere kollektive Sicht auf Sex verändert. Und doch verspüren trotz allem viele Menschen eine weit verbreitete Sehnsucht nach echter, romantischer, erwiderter Liebe; nur werden ihre Erwartungen durch die überzogenen und unrealistischen „Prioritäten“ oder die von der digitalen und kommerziellen Kultur postulierten Wünsche frustriert; oder sie werden irregeleitet durch den digitalen Nebelschleier, hinter dem sich so viele verstecken, hinter dem sich jeder „inszenieren“ oder sich Identitäten konstruieren kann, die womöglich gar nicht der Realität entsprechen.

Die Ausstellung Modern Love untersucht den Zustand von Liebe und intimen Beziehungen im heutigen Zeitalter des Internets, der sozialen Medien und des Turbokapitalismus, einem Zeitalter sogenannter „kalter Intimitäten“, um einen Begriff von Eva Illouz‘ Buchtitel aufzugreifen: Cold Intimacies: The Making of Emotional Capitalism.[2] Die Ausstellung geht der Frage nach, wie die digitale Sphäre, Technologiegiganten und Neoliberalismus Liebe und soziale Beziehungen verändert und gleichzeitig die Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem aufgelöst haben. Sie untersucht, wie das heutige Erleben von Raum und Zeit die Art und Weise beeinflusst, wie wir miteinander umgehen, und wie sich die virtuelle mit der realen Welt verwoben hat. Sie geht der Frage nach, wie das Internet einerseits nicht-heteronormative sexuelle Identitäten befreit und ihnen einen freien Ausdrucksraum verschafft hat, vor allem in Gesellschaften, in denen Queerness und nichtbinäre Sexualität als Tabu gelten oder sogar verboten sind. Andererseits untersucht sie pathologische Veränderungen des Menschen in Zusammenhang mit der Kommodifizierung von Gefühlen und den Auswirkungen der digitalen Abhängigkeit auf Beziehungen. Weiterhin befasst sie sich mit bedeutungsvollen, transformativen Formen der Liebe vom Persönlichen zum Politischen. Wie können wir die Liebe als eine mächtige emotionale Kraft und starke psychologische Bindung zwischen Menschen zurückgewinnen, die unserem Leben auf eine Weise Sinn gibt, wie es keine andere Interaktion, kein anderes „Objekt“ und keine andere Erfahrung vermag? Wie können wir die Liebe aus den Fängen des Kapitals und der Technosphäre der Konzerngiganten retten? Wie können wir der Instrumentalisierung der Liebe und ihrer Banalisierung und Reduktion auf das Oberflächliche durch Kommerz und soziale Medien widerstehen?

Zeit, körperliche Interaktion, Offenheit gegenüber dem anderen, Selbstlosigkeit, Empathie, Geduld und Toleranz sind Schlüsselkomponenten, die es für die Praxis der Liebe braucht – alles Dinge, die in der virtuellen Kommunikation oft fehlen. Unsere narzisstische Kultur der unaufhörlichen Eigenwerbung, des übersteigerten Individualismus, der Selbstliebe, der zunehmenden Selbstdarstellung und Arbeitssucht sind vielleicht einige der Gründe, weshalb viele Menschen heute trotz vieler „Freunde“ auf Facebook und Instagram-Follower einsam sind: Frustriert von falschen Erwartungen und digitalen „Erlebnissen“, erdrückt von einem Informations-Overkill, überfordert durch digitale Ermüdung und Gruppenzwang in den sozialen Medien, durch die Obsession für Äußerlichkeiten und die Angst vor dem Versagen oder der Unsichtbarkeit, durch normierte Schönheits- und Erfolgsmaßstäbe, Zeitmangel und Unsicherheitsangst, überrascht einen das nicht.

Darüber hinaus erreicht das Zur-Ware-Werden des Körpers, das mit Werbung, Marketing und Konsumkultur begann, nun seinen Höhepunkt in der digitalen Sphäre. Damit geht auch eine andere Form der Darstellung von Geschlechtlichkeit und Sexualität einher, die teilweise etwas zutiefst Entmenschlichendes hat. Innerhalb dieses Konzepts ist Sex auch zum Gegenstand von Konsumstreben geworden – leicht verfügbar, mit etlichen „Wahlmöglichkeiten“ und von einem ständigen Streben nach eigener Bedürfnisbefriedigung getrieben. Partner lassen sich leicht gegen jemand Neueren oder Besseren auswechseln. Viele Teenager beziehen ihre Vorstellung von Sexualität (und bei heterosexuellen Jugendlichen auch ihr Frauenbild) aus dem Internet. Wer den ganzen Tag an einem Bildschirm sitzt, verliert die Fähigkeit, im realen Zeit und Raum mit anderen zu interagieren. Die Kommunikation wird abgehackt und fragmentiert, während Erfahrungen oft virtuell bleiben. In der zunehmend flacher werdenden Welt der nicht-physischen Erfahrungen leiden reale zwischenmenschliche Beziehungen und Interaktionen zwangsläufig oder werden kurzlebig. Online zu sein, ist im Grunde eine einsame Sache. Es stimmt zwar, dass es teilweise zu echten physischen Interaktionen kommt, aber in welcher Form und unter welchen Bedingungen?

Die postmoderne Vielfalt der Lebensstile und die Verfügbarkeit des Internets für eine immer größere Anzahl von Menschen hat sowohl befreiende als auch ermächtigende Wirkungen, wenn sie richtig genutzt wird. Was jedoch Beziehungen betrifft, haben die Dating-Supermärkte von Tinder und Grindr, “Speed-Dating” und die Mühelosigkeit des Austauschs im Internet Beziehungen auch ausgehöhlt und zu selbstsüchtigen und narzisstischen Verhaltensformen und falschen Selbstbildern geführt, was es noch schwieriger macht, sich in der Realität zurechtzufinden. Der langsame Prozess des Sich-Verabredens und Kennenlernens im Laufe der Zeit wird durch etwas umgangen, das Douglas Coupland als “Schnell-Transaktionen” bezeichnet, sowie durch ein Zeitalter, das von einer “emotionalen Kargheit” charakterisiert ist.[3] Die Mühelosigkeit, mit der Sex über das Internet erhältlich ist, hat zu einer sexuellen Befreiung ganz anderer Art geführt als in den 1960er Jahren. Der Autor konstatiert einen “seltsam ausgehöhlten Blick” in den Gesichtern der Menschen, “die zu viel Sex über das Internet – oder eigentlich auch sonst überall – geliefert bekommen”[4]. Srećko Horvat argumentiert weiter, dass diese “geosozialen Netzwerk-Apps, die entwickelt wurden, um ‘die Liebe neu zu erfinden’ lediglich den ‘kostenlosen Sex’ neu erfinden“.[5]

All das macht es notwendig, unserer Gefühlswelt und unseren Herzensbeziehungen eine neue Bedeutung zuzumessen, oder, wie der Philosoph Firmin DeBrabander angemessenerweise mahnt: “Im Internet der Dinge könnte es sich lohnen, das Internet der Menschen neu zu erfinden.”[6] Tatsächlich ist der gegenwärtige Zeitpunkt so gut wie jeder andere geeignet, um sich wieder auf die eine Sache zu konzentrieren, die dem Leben seinen eigentlichen Sinn gibt und wieder Zeit für die Menschen einzufordern, die wir lieben, realen, körperlichen Begegnungen den Vorzug zu geben und menschliche Beziehungen wieder wertzuschätzen, die heute ebenfalls auf einen reinen Tauschhandel gegenseitiger Interessen reduziert wurden, statt von Selbstlosigkeit, Großzügigkeit und absichtslosem Spiel geprägt zu sein.

Wir leben zweifellos in einer Zeit dessen, was Han als “emotionalen Kapitalismus” bezeichnet hat – eine Zeit, in der auch Gefühle den Kräften des Markts unterliegen und „alles, was zu Praktiken und Ausdrucksformen der Freiheit gehört – Emotionen, Spiel und Kommunikation – ausgebeutet wird“.[7] Aber Liebe, Begehren und zwischenmenschliche Beziehungen sind keine Ware. Sie wollen langfristig gehegt und gepflegt werden. Statt eines „Bilds“ von Liebe, das permanent mit allen erdenklichen Mitteln verkauft wird, täte es vielleicht gut, die Liebe wieder in den Raum der Fantasie, der Intuition und der Sinne zu lenken und damit letztlich auch die Praxis des Gebens wiederzubeleben, ohne im Gegenzug etwas zu erwarten. Wir vergessen, dass Liebe in erster Linie eine private Beziehung ist, die eine Intimität verlangt und von ihr abhängt, und zwar auf eine Art, die im digitalen Raum nicht möglich ist.

Modern Love erforscht Liebe und soziale Beziehungen in der Komplexität einer zunehmend vernetzten, digitalen Welt mit dem Ziel, sie neu zu überdenken. Dabei geht es sowohl um Individuen als auch um die Kontrollsysteme, die sie aneinander binden. Ebenso geht es um gesellschaftliche Muster und die Herausforderungen und Möglichkeiten, die das Internet und die sozialen Medien bieten. Modern Love untersucht die pathologischen Veränderungen und Probleme, die Liebe und Herzensangelegenheiten heute belasten, und versucht uns zu helfen einen Ausweg aus unserer gegenwärtigen Entfremdung, emotionalen Sterilität und Einsamkeit zu denken.

– Katerina Gregos, Kuratorin der Ausstellung

FUßNOTEN

[1] Badiou, Alain (mit Truong, Nicholas), In Praise of Love, Profile Books Ltd., London, 2012, dt. Lob der Liebe, Passagen-Verlag, 2015

[2] Illouz, Eva, Cold Intimacies: The Making of Emotional Capitalism, Polity Press, Oxford, 2007, dt. Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, Adorno-Vorlesungen 2004. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006

[3] Coupland, Douglas, Shopping in Jail: Ideas, Essays, and Stories for the Increasingly Real Twenty-First Century, Sternberg Press, Berlin, 2013, S. 28

[4] Ebd., S. 45

[5] Horvat, Srećko The Radicality of Love, Polity Press, Cambridge, 2016, S. 27, dt. Die Radikalität der Liebe, Laika Diskurs, 2016

[6] DeBrabander, Firmin, “Is love losing its soul in the digital age?” The Conversation, 13.02.2019

https://theconversation.com/is-love-losing-its-soul-in-the-digital-age-110686

[7] Han, Byung-Chul, Psychopolitics. Neoliberalism and new technologies of power, Verso, 2017, S. 3, dt. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, S. Fischer Wissenschaft, 2014